Mensch ohne Welt – Warum die einst zentrale Idee der Gestaltbarkeit von Gesellschaft an Strahlkraft eingebüßt hat 

Nachdem der Abend zunächst krankheitsbedingt nicht stattfinden konnte, wurde glücklicherweise noch ein Ersatztermin gefunden. Am 6. März 2023 beschließt somit die Soziologin Alexandra Schauer mit ihrer spannenden Analyse unsere fünfteilige Veranstaltungsreihe. Schauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt und wurde für ihr unlängst im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch, Mensch ohne Welt, mit dem Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ausgezeichnet. 

In ihrem Vortrag nimmt sie sich dem zweiten Teil des Titels unserer Veranstaltungsreihe an: Ist eine andere Welt noch möglich? Schauer hat gewissermaßen zwei Antworten, eine einfache und eine komplizierte. Beide stehen im Zusammenhang mit Überlegungen der älteren kritischen Theorie, die ihr eigenes Nachdenken über Gesellschaft maßgeblich beeinflusst hat. 

Die einfache Antwort auf die Frage, ob eine andere Welt noch möglich ist, gibt Schauer mit einem Zitat von Max Horkheimer: „Die kritische Theorie erklärt: es muss nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.“ (1937) Diese Antwort kann auch auf die heutige Situation übertragen werden. Prinzipiell sind die Möglichkeiten vorhanden, um eine Gesellschaft zu errichten, die nicht gleichermaßen auf dem Prinzip der Naturvernichtung beruht, wie die kapitalistische, so Schauer. 

Die komplizierte Antwort setzt an der Frage an, weshalb die Menschen die Welt nicht zum Besseren verändern, sondern stattdessen an den Verhältnissen festhalten, die doch ihnen, ihren Mitmenschen und der Natur beständig Schaden zufügen. Theodor W. Adorno, der die Entwicklung der kritischen Theorie maßgeblich geprägt hat, sieht als einen der Gründe für diese Verhärtung gegenüber der Möglichkeit einer anderen Welt die Ausbreitung eines überwertigen Realismus an. Überwertiger Realismus heißt, dass die Menschen sich so sehr mit den gegebenen Verhältnissen identifizieren, dass sie sich eine andere als die bestehende Möglichkeit gar nicht mehr vorstellen können. Diese Ausbreitung des überwertigen Realismus steht im Fokus des Vortrags. Es geht folglich um den oft zitierten Befund, dass sich die Menschen heute eher ein katastrophisches Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellen können. 

Die Soziologin beschreibt an diesem Abend in drei Schritten die Ausbreitung des überwertigen Realismus als ein Verlust von Welt. Zunächst erläutert sie, was mit „Mensch ohne Welt“ gemeint ist. Anschließend wird die Ausbreitung des überwertigen Realismus aus historischer Perspektive analysiert. Und zum Ende stellt sie einen Rückbezug zur ökologischen Krise der Gegenwart her und zeigt dabei, dass die Ausbreitung des überwertigen Realismus als eine der zentralen Herausforderungen für die Bewältigung der Krise anzunehmen ist. 

Menschen ohne Welt sind und waren, so schreibt es Günther Anders, Menschen, die gezwungen sind, in einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist. Obgleich sie von ihnen durch ihre tägliche Arbeit erzeugt und in Gang gehalten wird, ist sie nicht für sie gebaut, ist sie nicht für sie da. Anders weist damit auf einen Widerspruch hin, den bereits Karl Marx zum Gegenstand gemacht habt: Die Menschen bringen zwar die gesellschaftlichen Verhältnisse durch ihr eigenes Handeln hervor. Dennoch erscheint ihnen die Gesellschaft nicht als Resultat ihres Handelns, sondern als eine eigenständige fremde Macht. Diese Entfremdung fasst Alexandra Schauer als eine Form des Weltverlustes.  

Welt ist dabei im Sinne eines politischen Phänomens, eines Orts des gemeinsamen Sprechens und Handelns zu verstehen. Sie ist insofern ein kollektiver Verständigungs- und Gestaltungsraum, der erst durch das Handeln der Menschen hervorgebracht wird und dadurch immer auch gestaltet werden kann. Als Verständigungsraum ermöglicht die Welt, dass sich Menschen fragen, in welchem Zusammenhang ihr Leben mit dem Leben der anderen steht. Als Ort kollektiver Gestaltbarkeit rückt die Frage ins Zentrum, in was für einer Welt wir leben wollen. 

Schauers historische These ist, dass sich die Entwicklung moderner Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert, das heißt, seit der ökonomisch-politischen Doppelrevolution, als ein Prozess der Entdeckung und Aneignung von Welt beschreiben lässt. Im Zentrum steht dabei die Öffnung der Zukunft und die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Geschichte. Dem steht in der sogenannten Spätmoderne, deren Durchsetzung in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts fällt, eine Form des Weltverlustes gegenüber. Dieser Verlust von Welt hat zwei Seiten. Einerseits entfremdet sich der Mensch von der Welt, die sich nicht mehr als ein Ort kollektiver Selbstverständigung und politischer Weltgestaltung angeeignet wird. Andererseits entfremdet er sich von sich selbst, weil er nicht versteht, wie sein eigenes Leben mit der Gesellschaft, die ihn umgibt, im Zusammenhang steht. 

Spätmoderner Weltverlust bedeutet folglich, dass in der Gegenwart das Gespür dafür verloren geht, wie das Leben des Einzelnen mit dem Leben der anderen durch ein Beziehungsgeflecht verbunden ist, das durch gemeinsames Handeln gestaltet werden kann. 

Foto: Anni Reeh

Alexandra Schauer hat diese moderne Entdeckung und den spätmodernen Verlust von Welt in ihrem Buch aus drei Perspektiven untersucht: aus der Perspektive des Wandels der Zeitverhältnisse, der Öffentlichkeit und der Stadt.  

An diesem Abend geht sie insbesondere auf den Wandel der Zeitverhältnisse ein: Aus dieser Perspektive stellt sich die Entwicklung als moderne Öffnung und spätmoderne Verdunklung des Zukunftshorizonts dar. Ist die moderne Öffnung des Zukunftshorizonts die Voraussetzung für die Entdeckung der Geschichte als ein menschliches Handlungsfeld, so trägt die spätmoderne Verdunklung zur Erschöpfung gesellschaftlicher Gestaltungsphantasien bei, insofern die Zukunft zwar weiterhin als offen, aber als zunehmend unkontrollierbar erscheint. 

Wir können an dieser Stelle nicht die gesamte Analyse, wie sie von Schauer dargeboten wird, abbilden und verweisen für tiefergehende Details auf ihr Buch. Zusammengefasst aber, lässt sich die zentrale Entwicklung in der Zeitdimension als Ablösung einer zyklischen durch eine lineare Zeitvorstellung in der Moderne und als Ablösung einer linearen durch eine flexible Zeitvorstellung in der Spätmoderne verstehen. Mit diesem Wandel der Zeitvorstellung geht eine Verschiebung des zentralen Zeithorizonts und der Zukunftsperspektive einher. Die Vormoderne hatte sich an der Vergangenheit orientiert. Die Moderne hat sich hoffnungsvoll der offenen Zukunft zugewendet. Die Spätmoderne konzentriert sich hingegen auf die Gegenwart. 

Als Weltverlust lässt sich diese Entwicklung insofern verstehen, als mit der Verdunklung des Zukunftshorizonts die Möglichkeit einer bewussten Gestaltung von Zukunft immer weniger betrachtet wird. Mit Theodor W. Adorno lässt sich diese Entwicklung als Ausbreitung eines überwertigen Realismus verstehen. 

Diese Ausbreitung eines überwertigen Realismus wirkt sich auch auf die Geschichte der Öffentlichkeit aus. Hatte die moderne Öffnung des Zukunftshorizonts die Entstehung und Ausweitung der Öffentlichkeit begünstigt, so findet in der Gegenwart eine entgegengesetzte Entwicklung statt. Einerseits lässt sich der Übergang in die Spätmoderne als ein fortschreitender Prozess der Entgrenzung der Privatsphäre beschreiben. Andererseits korreliert mit dieser Entgrenzung des Privaten ein Bedeutungsverlust der Öffentlichkeit. Ihren deutlichsten Ausdruck hat diese Entwicklung in dem gefunden, was Schauer als Entstehung des spätmodernen oder neoliberalen Gesellschaftsvertrags beschreibt.  

Mit der Entwicklung, dass die Zukunft zunehmend unkontrollierbar erscheint, geht in der politischen Öffentlichkeit eine Logik des Sachzwangs einher. Die Technokratie, also die Entscheidungsfindung durch Expert*innen, wird zum Mittel einer als alternativlos verstandenen politischen Praxis. Diese Krise des Politischen stellt eine der zentralen Herausforderungen in Zeiten der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise dar. Schauer verdeutlicht dies abschließend in drei Thesen. 

Erstens wird, durch die Ausbreitung des überwertigen Realismus, Problemen und Herausforderungen, die prinzipiell veränderbar sind, eine Logik der Notwendigkeit unterstellt. Selbst dort, wo Entscheidungen gesellschaftlich getroffen werden, werden sie unsichtbar gemacht. Diese Unsichtbarmachung führt dazu, dass das Potenzial der Gesellschaftsgestaltung, in die, ihrem eigenen Selbstverständnis nach, unpolitischen Sphären von Ökonomie, Technik und Wissenschaft abwandert. Problematisch ist das nicht nur, da solche Entscheidungen nicht durch eine breite politische Öffentlichkeit legitimiert sind. Auch fällt dabei oftmals Handeln und Bewusstsein systematisch auseinander. Viele ökonomisch getroffene Entscheidungen, wie etwa die Verlagerung der Produktion an billige Produktionsstandorte im globalen Süden, ziehen soziale und ökologische Konsequenzen nach sich, derer sich die Entscheidungsträger*innen oftmals nicht bewusst sind und die bei der Entscheidung keine Rolle spielen. 

Foto: Anni Reeh

Zweitens wird der Spalt zwischen der Notwendigkeit einer Veränderung und der Fähigkeit zum Handeln gegenwärtig immer größer. Daraus resultiert eine Gleichzeitigkeit von gesteigertem Gefahrenbewusstsein einerseits und fatalistischer Gelassenheit andererseits. Zwar weist die aktuelle ökonomisch-ökologische Zangenkrise auf die Notwendigkeit einer Gesellschaftsveränderung hin: Stabilisieren und erhalten kann sich der Kapitalismus nur, indem er verwüstete Landschaften und zerrüttete Körper hinterlässt. Aber gleichzeitig sieht sich die Zangenkrise mit der spätmodernen Krise des Politischen konfrontiert. Weil ihnen die Zukunft als dunkel und unkontrollierbar erscheint, kann sich die Mehrheit der Menschen heute einen anderen Modus als das bloße Weiter-so gar nicht mehr vorstellen. Die Gleichzeitigkeit von gesteigertem Gefahrenbewusstsein und fatalistischer Gelassenheit muss insofern als die vielleicht größte Herausforderung unserer Gegenwart verstanden werden, als mit jeder unterlassenden Handlung die Dringlichkeit wächst, während der Handlungsspielraum abnimmt. Zudem bringen die sozialen und ökologischen Verwerfungen, die als Folgen der krisenhaften Reproduktion auftreten, beständig neue gesellschaftliche Konfliktherde und autoritäre Lösungsversuche hervor. 

Die dritte These betrifft die Klimabewegung im Besonderen, welche als ein gesellschaftlicher Protest gegen die Gleichzeitigkeit von gesteigertem Gefahrenbewusstsein und fatalistischer Gelassenheit begriffen werden muss. Auch in dieser lassen sich Momente des Weltverlustes beobachten. Wenn sie der Politik das Weiter-so den Slogan „Listen to Science“ entgegenhält, dann setzt auch sie gegen die politische Idee, dass die Gestaltung der Zukunft ein kollektiver Aushandlungsprozess ist, auf eine technokratische Logik der Notwendigkeit. Zudem wohnt der Klimabewegung eine Tendenz zur Individualisierung und Moralisierung gesellschaftlicher Probleme inne. Deutlich zeigt sich das nicht nur an dem Slogan einer Politik mit dem Einkaufskorb, sondern etwa auch an den Konzepten des Anthropozäns oder des ökologischen Fußabdrucks. Mit dem Epochenbegriff des Anthropozäns soll der Einfluss des Menschen auf die ökologischen Verwerfungen gekennzeichnet werden, die heute als ökologische Krise unsere Gegenwart bestimmen. Wahr an dem Begriff ist, dass er, indem er den Menschen als Akteur benennt, auf die prinzipielle Möglichkeit der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse verweist. Falsch an ihm ist, dass er in den Hintergrund treten lässt, dass die Menschen, wie Marx betont, zwar ihre eigene Geschichte machen, aber dies eben nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Es ist das Kapitalverhältnis, das als verselbstständigte Bewegung, als automatisches Subjekt bis heute die Geschichte bestimmt. Eine vergleichbare Logik der Individualisierung, die am Einzelnen ansetzt, bei der aber eigentlich gesellschaftliche Dynamiken als treibende Kräfte anzusehen sind, zeigt sich auch in der allseits präsenten Maßeinheit des ökologischen Fußabdrucks. Auch er sucht zu zeigen, wie sich der Mensch durch sein Handeln, in die sich perpetuierende Katastrophe verstrickt. Zugleich wird dabei das individuelle Vergehen angerechnet, was in hohem Maße gesellschaftlich vorgeformt ist. Denn die Frage, ob beim Biomarkt eingekauft wird oder im nächstgelegenen Billigsupermarkt, stellt sich für viele gar nicht als Wahlentscheidung, sondern sie geht aus dem zwanglosen Zwang ihrer Einkommensverhältnisse und damit aus ihrer Rolle als doppelt freie Lohnarbeiter*innen hervor. Zudem liegen die Gründe dafür, dass das billige Fleisch aus der Massenproduktion einen deutlich höheren Fußabdruck hinterlässt als das abgehangene Rind vom Biohof in den spezifischen Produktionsbedingungen, die dem Einfluss des Einzelnen weitgehend entzogen sind.  

An den ihr innewohnenden Tendenzen zur Individualisierung und zur technokratischen Bearbeitung gesellschaftlicher Krisenphänomene müsste die Selbstkritik einer Klimabewegung ansetzen, die mit einer radikalen Veränderung der Gesellschaft ernst machen will. Damit leitet Alexandra Schauer zur Diskussion über, an der sich noch rege beteiligt wird.  

Für uns bedeutet diese Abschlussveranstaltung auch, Resümee zu ziehen: An insgesamt fünf Abenden befassten wir uns mit wichtigen und oftmals noch zu wenig beachteten Perspektiven auf die titelgebenden Stichwörter „Ökologie, Krise und Kapitalismus“. Wir danken allen Besucher*innen für die rege Beteiligung und Unterstützung. Und insbesondere gilt unser Dank natürlich den Vortragenden, die sich teils von weit her nach München ins Kreativquartier aufgemacht haben. Dem PATHOS München e.V. danken wir für die gelungene Kooperation, nicht nur in Bezug auf die Räumlichkeiten. Nicht zu vergessen ist auch die finanzielle Unterstützung durch die Selbach-Umwelt-Stiftung, das Kulturreferat der Stadt München sowie den Bezirksausschuss Neuhausen-Nymphenburg.  

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